Kürzlich las ich wieder mal ein richtiges Kitschbuch. Von einem jungen Mann, der gegen das Unrecht kämpft, aus der Armut aufsteigt und gleichzeitig jahrelang auf seine grosse Liebe wartet. Er wird belohnt dafür. Alles geht auf, wunderbar, wunderschön, regenbogenfarben, und Schnitt.
Es ist eine interessante Geschichte. Sie ist so alt wie die Menschheit selber und geht so: “Irgendwann bekommt jeder, was er verdient.” Fanfaren! Freude! Das Leben ist gerecht! Diese Geschichte ist sehr mächtig. Und sie ist ein Märchen: Eigentlich nicht wahr, aber darum geht es bei Märchen nicht. Sie tun uns gut.
Die meisten Menschen brauchen den Glauben an eine höhere Gerechtigkeit. Weil dann unsere kleinen Kämpfe und Mühen, unser Streben und Leiden nicht vergeblich sind. Die Bemühungen werden sich in einem nächsten Leben (für Hindus), in diesem Leben (für Protestanten, Schiiten, Juden) oder im Jenseits (für Katholiken) auszahlen. So wohl tut uns Menschen dieser Gedanke, dass wir auf ihm als Fundament nicht nur unsere Kitschbücher und Kinofilme, sondern unsere ganze Gesellschaft aufgebaut haben.
Ganz fest anstrengen
Besonders überzeugt von der Meritokratie sind die Protestanten. Darum strengen sie sich auch so sehr an. Weil sie überzeugt sind, dass sich Leistung noch in diesem Leben lohnen wird. Finanziell. (Ausserdem können sie nicht beichten, wenn sie etwas vermasseln.) Mittlerweile hat sich zwar bei vielen der explizite Gott aus der Gleichung verabschiedet. Der Glaube aber ist geblieben; an die Stelle von Gott setzten wir den rationalen Markt. Er belohnt angeblich meistens zuverlässig Einsatz und bestraft Faulheit. Hm.
Mittlerweile weiss ich, dass das Märchen so nicht wahr ist. Es gibt eine ganze Reihe von Menschen, die nicht durch harte Arbeit reich werden, sondern durch bequeme Tricksereien oder simples Ausharren. Grosse Organisationen funktionieren oft nicht meritokratisch, sondern chaotisch, willkürlich, manchmal gar selbstzerstörerisch. Und Löhne sind selbstverständlich kein objektiver Massstab für Leistung. Überragende Ideen zerschellen am Widerstand der Mehrheit, spannende Künstler werden erst nach ihrem Tod geschätzt. Unternehmer schalten mithilfe von Beziehungen oder Druck Konkurrenten aus, die eigentlich bessere Produkte herstellen. Ganz besonders gilt all dies in Gesellschaften, in denen Bürokraten, Lobbyisten und Volksvertreter – also “der Staat” – allerlei Pfründe verteilen und künstliche Monopole schützen. Also überall.
Nein, das Leben ist ganz sicher nicht gerecht.
Das macht aber nichts. Ich glaube trotzdem weiter an das Märchen. Weil mir der Gedanke gut tut, dass man sich nicht vergeblich Mühe gibt. Weil eine positive Haltung und freudiger Fleiss vielleicht nicht immer zu grossem Reichtum führen, immer aber zu grosser Zufriedenheit. Wie jeder weiss, der das lukrative Rad eines Grossunternehmens verlassen hat, um für weniger Geld seine eigene Firma aufzubauen. Die magische Geldverteilinstanz mag übersehen, dass ich mit meiner Einzelfirma klüger und begeisterter arbeite als mein Kollege im middle management eines Grossunternehmens. Ich selber aber weiss es immer.
Etwas mehr Bescheidenheit
Zwei Dinge aber wünsche ich mir. Wir dürfen erstens nie aufhören, unsere Gesellschaft meritokratischer zu formen. Junge Talente mit scholarships zu fördern, Marktabsprachen radikal zu bestrafen, Subventionen zu kappen, Too-big-to-fail zu bekämpfen, Insiderhändler zu bestrafen, Korruption anzuprangern. Damit man auch einigermassen wohlhabend werden kann, ohne irgendeine Made im Speck zu bestechen. Das ist, Schweizer vergessen das oft, an den meisten Orten der Welt nicht selbstverständlich.
Zweitens wünsche ich mir etwas mehr Bescheidenheit und Demut von den vielen extrem gut bezahlten Angestellten in der Schweiz. (Dazu gehöre ich auch.) Die ihre teilweise lächerlich hohen Löhne (ein Kaderangestellter mit einem flauen BWL-Abschluss verdient in der Schweiz kaufkraftbereinigt mehr als in den meisten Ländern der Welt ein Topingenieur, Professor oder Unternehmensleiter) vor allem einem verdanken: Der Gunst der Geburt im richtigen Land zur richtigen Zeit.
Michael Lewis schreibt die besten Bücher zur Finanzindustrie. Er ist ausserdem Absolvent von Princeton und LSE und begann sein Arbeitsleben bei der Investmentbank Salomon Brothers. 1988 stieg er aus, um ein Buch zum Innenleben der Wallstreet zu schreiben. “Liar’s Poker” wurde ein Mega-Bestseller, was Lewis damals aber natürlich noch nicht wusste. Das schrieb er damals im Epilog zu seinem Entscheid – dem Aufwachen aus dem American Dream:
I left Salomon Brothers in the beginning of 1988, but not for any of the obvious reasons. I didn’t think the firm was doomed. I didn’t think that Wall Street would collapse. I wasn’t even suffering from growing disillusionment (it grew to a point, still bearable, then stopped). Althogh there were many perfectly plausible reasons to jump ship, I left, I think, more because I didn’t need to stay any longer.
My father’s generation grew up with certain beliefs. One of those beliefs is that the amount of money one earns is a rough guide to one’s contribution to the welfare and prosperity of our society. I grew up unusually close to my father. Each evening I would plop into a chair near him, sweaty from a game of baseball in the front yard, and listen to him explain why such and such was true and such and such was not. One thing that was almost always true was that people who made a lot of money were neat. (…) It took watching his son being paid 225 grand at the age of twenty-seven, after two years on the job, to shake his faith in money. He has only recently recovered from the shock.
I haven’t. When you sit, as I did, at the center of what has been possibly the most absurd money game ever and benefit out of all proportion to your value to society (as much as I’d like to think I got only what I deserved, I don’t), when hundreds of equally undeserving people around you are all raking it in faster than they can count it, what happens to the money belief? Well, that depends. For some, good fortune simply reinforces the belief. They take the funny money seriously, as evidence that they are worthy citizens of the Republic. It becomes their guiding assumption – for it couldn’t possibly be clearly thought out – that a talent for making money come out of a telephone is a reflection of merit on a grander scale. It is tempting to believe that people who think this way eventually suffer their comeuppance. They don’t. They just get richer. I’m sure most of them die fat and happy.
For me, however, the belief in the meaning of making dollars crumbled; the proposition that the more money you earn, the better the life you are leading was refuted by too much hard evidence to the contrary. And without that belief, I lost the need to make huge sums of money. The funny thing is that I was largely unaware how heavily influenced I was by the money belief until it had vanished.
So, und jetzt gehe ich, gebe mir Mühe im Leben und bin dankbar für meinen bescheidenen Wohlstand in diesem friedlichen Land.