Kürzlich ass ich mit mehreren Herren zu Abend, die man als Mitglieder der Schweizer Wirtschaftselite bezeichnen könnte. Wir verbrachten sehr angenehme Stunden. Dann aber fielen wieder diese Sätze, bei denen sich immer etwas in meinem Bauch zusammenzieht.
Leistung muss sich lohnen, und Leistungsverweigerung darf nicht belohnt werden”, sagten sie.
“So ist der Mensch halt. Jeder denkt zuerst an sich, und jeder ist käuflich. Alles andere ist naiv.”
“Da ist wirklich jeder selber schuld. Das ist nicht mein Problem und schon gar nicht das des Staates.
Ich wuchs in einem nicht-akademischen Umfeld auf, instruiert nach traditioneller protestantischer Arbeitsethik, angehalten zur Eigenverantwortung. Die grösste Sünde auf Erden waren Schulden. Das höchste Ziel war eine angesehene berufliche Position mit gutem Einkommen, die man sich mit Ehrgeiz und Fleiss redlich verdient hatte.
Auch ich, das Kind, dachte so.
Und doch spürte ich, wenn ich inmitten der Männer am runden Tisch sass (was ich sehr gerne tat), meinen Bauch. Er rebellierte, er sträubte sich, er zog sich zusammen wie eine Weinbergschnecke, deren Fühler gestossen wurden. Damals hatte ich keine Worte, um meinen Widerstand auszudrücken, und ich hatte sie lange nicht. Stattdessen verdächtigte ich mich selber der Fremdartigkeit. Heute, nach vielen Reisen, viel Lesen, Leiden, Denken und Fühlen, habe ich die Worte gefunden.
1. Ganz grundsätzlich: Aus Ihren Worten spricht nicht Stärke, sondern Angst. Es ist das Denken der Kleinbürger und Krämer. Das ist nützlich, weil es einen gehorsam macht und nach Geld streben lässt. Es ist aber auch traurig, weil es Zivilcourage, Neugier und Lebensfreude zerstört. Und den Humor oft gleich noch mit.
2. Wenn Sie “Leistung” sagen, meinen Sie “Einkommen”. “Leistungsträger” sind für Sie Leute, die viel verdienen. Das ist anmassend. Wieviel Geld jemand verdient, ist kein Massstab für den Wert seiner Arbeit für die Gesellschaft, auch wenn Calvin das ungefähr so behauptet hat. In den Märkten gibt es so viele Asymmetrien und Irrationalitäten, dass das schlicht kein zuverlässiger Indikator ist. Das wissen Sie genau, wenn Sie ehrlich sind. Also seien Sie nicht so ehrfürchtig gegenüber Gutverdienenden, einschliesslich sich selber. (Siehe auch: Unser aller Märchen.)
3. Nein, so ist der Mensch nicht. Es wäre gut, wenn Sie das nicht ständig allen beibringen würden, es ist längst widerlegt. Der Mensch denkt manchmal tatsächlich nur an sich. Manchmal denkt er auch an andere. Manchmal kämpft er glühend und bis zum Tod für Werte, die ihm wichtiger scheinen als sein eigenes kleines Leben. Und manchmal, gar nicht selten, denkt er nicht, er fühlt.
4. “Jeder ist käuflich”, ist die beschissenste Ausrede, die je vorgebracht wurde. Erstens ist es nach dem Lebensalter von fünf Jahren moralisch kein Massstab mehr, was alle anderen machen. Zweitens müssen wir dringend die Hürde wieder höher legen, bei der wir Betrug, Feigheit und Verrat als legitim erachten. Wir leben hier schliesslich nicht in einer Militärdiktatur oder in existenzieller Armut, sondern im reichsten und sichersten Land der Welt. Also reissen wir uns am Riemen.
5. Natürlich ist “es” (die Armut, Drogensucht, psychische Krankheit, Krise, Trauer etc. eines Menschen) grundsätzlich nicht Ihr Problem (wobei man sich darüber durchaus streiten kann, ob nicht alles Leid uns letztlich alle betrifft). Aber das mit dem “selber schuld” ist so eine Sache. Je mehr wir über die menschliche Psyche herausfinden, desto mehr bestätigen sich zwei Thesen. Erstens: Menschen erleben, empfinden und verarbeiten die Aussenwelt sehr unterschiedlich – und erstaunlich viele auf eine Art, die ausserhalb der einst definierten Norm liegt. Zweitens: Vor allem schnelle Entscheide fällen Menschen nicht bewusst, sondern mehr oder weniger getrieben von der eigenen Natur. Diesen Verdacht hegt die Philosophie schon lange (Schopenhauer: „Der Mensch kann zwar tun, was er will, aber er kann nicht wollen, was er will“). Seien wir zurückhaltend in unserem Urteil.
6. Meine Herren, bei allem Respekt: Sie sind in der privilegiertesten Generation (1945 – 65) im privilegiertesten Land der Welt geboren. Manche von Ihnen haben nur eine vage Ahnung davon, wie es in dieser Welt aussieht, wie ich immer wieder erstaunt feststelle. Nicht nur in Somalia oder Bangladesh, sondern bereits in Berlin-Neukölln oder in den Banlieues von Paris. Es steht Ihnen nicht zu, derart selbstgerecht von “Leistungsverweigerern” oder gar “Sozialschmarotzern” zu sprechen, weil Sie sich schlicht nicht vorstellen können, wie hart die allermeisten Menschen auf dieser Welt kämpfen.
Ein Freund von mir ist in einem New Yorker Ghetto aufgewachsen, mausarm, schwarz, inmitten von lebensgefährlicher Gewalt. Das Medizinstudium musste er abbrechen, weil er die Schulden in seinem ganzen Leben nicht hätte zurückzahlen können, selbst mit Begabtenstipendium. Stattdessen schloss er rasch in Finanzmathematik ab und verdient heute sehr gut als Investmentbanker. Er ist blitzgescheit. Dieser Mann, allenfalls, könnte von der eigenen “Leistung” schwärmen. Tut er aber nicht, wie es bezeichnenderweise viele Menschen mit ähnlichen Biografien nicht tun. Stattdessen sagte er mir gerade letzte Woche:
Ich habe vor allem unfassbares Glück gehabt. Und ich bin so unendlich dankbar für jeden, der mir auf meinem Weg geholfen hat.
Das ist jetzt – man muss das in diesem Land immer sagen – keineswegs ein Plädoyer für irgendwelche politischen Programme. Ich mag grundsätzlich keine Bürokratie. Selbstverständlich sollen Leute, die gerne und viel arbeiten, nicht bestraft werden. Wir haben in der Schweiz bereits ein ausgezeichnetes Auffangnetz für die Unwirtlichkeiten des Lebens. Und Zivilcourage lässt sich niemals mit Vorschriften verordnen – es liegt im Gegenteil in ihrer definitorischen Logik, dass Befehle sie oft schwer beschädigen. Kein Plädoyer für politischen Aktivismus also.
Durchaus aber ein Plädoyer für mehr Demut und Grossherzigkeit. Und für Humor. Das hat dieses Land schmerzlich nötig.
P. S. Tipps zum Thema: “The Wire” schauen. “The White Tiger” von Aravind Adiga, “The Unwinding” von George Packer und “The Art of Possibility” von Stone/Zander lesen.