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Es ist ja bald Weihnachten, Wintersonnenwende, Lichterfest, Jahreswechsel. Und da passt dieser Gedanke, der mich seit langer Zeit begleitet: Ich halte die Seelsorge für den wichtigsten und zukunftsträchtigsten Job überhaupt. Nichts wird in den kommenden Jahrzehnten wertvoller sein als die Fähigkeit, Menschen zu verstehen, ihr Vertrauen zu gewinnen und sie an der Hand durch die Wildnis dort draussen zu führen - als Psychologe, Pfarrer, Anwalt, Berater, Autor.
Denn was wir im Moment erleben, ist der fundamentalste Wandel, den die Menschheit bislang gesehen hat: Es ist das Ende der physisch begrenzten Wirklichkeit. Wie ein virtueller Schleier legt sich die Informationstechnologie über alles und schafft eine Augmented Reality, eine erweiterte Realität. Die Welt wird nicht nur metaphorisch, sondern tatsächlich nie mehr sein wie zuvor. In wenigen Jahren werden bei unserem Spaziergang durch die Stadt elektronisch geschaffene Schilder, Ladenfronten, Bäume, Personen vor unseren Augen auftauchen, als wären sie naturgegeben. Sie sind nicht echt im physischen Sinne, aber sie sind echt in unserer Wahrnehmung. Und das ist es, was zählt.
Oder?
Die Frage, wie wir ticken und was wir wollen
Wir werden uns fragen müssen, wie unsere Wahrnehmung, unser Fühlen und Denken überhaupt funktioniert. Was uns zu Menschen macht, wo wir unsere Grenzen setzen. Wir werden uns fragen müssen, was Privatheit noch bedeutet, wer Kontrolle über unsere Daten hat und wer uns wie regieren wird. Wie wir uns schützen können. Darum boomen Neurowissenschaften, aber auch Moraldebatten: Die Frage, wie wir ticken und was wir wollen, ist angesichts künstlicher Intelligenz und Komplettvermessung des Menschen tatsächlich so wichtig wie nie zuvor.
Wir bewegen uns in einem Dschungel aus natürlichen Elementen, repräsentativer Natur (Daten) und Illusionen. Und nichts ist für das Überleben im Dschungel wichtiger als Selbsterkenntnis und Mitstreiter, denen man vertraut.
Wer das für absurde Science Fiction hält, hat die letzten sechs Monate in einer definitiv nicht erweiterten Wirklichkeit verbracht. Und sollte sich eine Viertelstunde lang anschauen, wie Google seine Forschungsgelder investiert. Noch muss man eine sperrige Brille tragen, um synchron in Zeit und Ort Verkehrsmeldungen, virtuelle Ladenfronten und Hinweise auf Freunde in unmittelbarer Nähe vor Augen geführt zu bekommen - und dabei selber ständig beobachtet zu werden. Es wird keine fünf Jahre mehr dauern, bis die Brille leicht und fein und schliesslich zur Kontaktlinse wird. Und keine zehn Jahre, bis wir uns in virtuellen Parks erholen und in projizierten Konferenzzimmern tagen.
P. S. Erinnern Sie sich an Tupac? Er starb vor 17 Jahren. Letzten Sommer trat er wieder einmal auf - als Hologramm.
P. P. S. Würden Medienhäuser ihr Produkt als seelsorgerischen Rückzugsort im vorüberziehenden Informationsfluss verstehen und an den Clubeingängen Kassen aufstellen, hätten sie eine glänzende Zukunft vor sich. Ich spreche nicht von Nachrichten, selbstverständlich. Die sind der Fluss.