Herr Roeck, Sie hinterfragen die Ansicht, dass Europa Aufklärung und Wissenschaft der Reformation verdanke. Warum?
Ich sehe das sehr skeptisch, ja. Sie hat durchaus dazu beigetragen, aber anders, als man oft denkt. Wir verdanken in Europa die Trennung von Kirche und Staat nicht zuletzt den Schrecken des 30jährigen Krieges. Die Erfahrung des Krieges trug dazu bei, dass sich nach 1648 die Einsicht durchsetzte, es gelte Religion fortan von der Politik fernzuhalten. Das war eine – mithin indirekte – Folge der Reformation. Sie mündete im übrigen nur in eine der unzähligen Spaltungen, die alle Religionen immer wieder heimsuchten und heimsuchen. Doch sie löste einen Streit von solcher Gewalttätigkeit aus, dass Europas Säkularisierung voranschritt. Und diese Säkularisierung machte möglich, was wir heute unter Aufklärung verstehen: einen kritischen öffentlichen Diskurs, Grundfreiheiten und Institutionen, die all dies schützen.
Diese Säkularität ist meines Wissens historisch einzigartig. Seit den Sumerern und der Sesshaftigkeit des Menschen gab es nie ein Staatswesen, das sich nicht religiös organisierte.
Das ist richtig. Der chinesische Kaiser vermittelte zwischen Himmel und Menschen, der japanische Tenno ist Gottkaiser, der Sultan ist der Schatten Allahs. Der säkulare Staat ist bis ins 18. Jahrhundert weitgehend europäisch. Erstmals zu geschriebenem Recht wurde Religionsfreiheit bekanntlich erst 1791, mit dem First Amendment zur amerikanischen Verfassung.
Ist das überhaupt möglich, ein Staat ohne Religion? Irgendeine Vorstellung brauchen die Menschen doch immer.
Ich würde sagen: schön wär’s, wenn das möglich wäre. Aber Sie haben vermutlich recht. Menschen suchen immer wieder einen Religionsersatz, sei es eine «Zivilreligion», seien es völkische Ideale, die Paradiesvorstellungen des Kommunismus oder auch der Traum von der kompletten Abschaffung von Staat und Steuern, den manche Libertäre hegen. Das sind alles Utopien. Sie sind meist gefährlich, weil der Kern jeder Utopie Reinheit ist. Es braucht immer Blutbäder, um sie zu erreichen.
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