Es war ein regnerischer Januartag im Jahr 2003, als der Ökonom Robert E. Lucas mit einer frohen Botschaft vor sein Publikum im Washingtoner Grand Hyatt Hotel trat: Die Ökonomie hatte gesiegt. «Wir haben unsere wichtigste Aufgabe, das Vorbeugen von wirtschaftlichen Depressionen, erledigt», verkündete Lucas. «Und wir haben sie auf viele Jahrzehnte hinaus erledigt.»
Fünf Jahre später brachen in der zweitgrössten Finanzkrise der Geschichte erst das weltweite Bankensystem und dann beinahe mehrere Staaten der Eurozone zusammen. Jetzt bringt das Coronavirus die nächste globale, in ihren Folgen wahrscheinlich noch heftigere wirtschaftliche Krise.
Die Aufgabe ist nicht erledigt. Sie hat gerade erst richtig begonnen.
Ein krisenanfälliges System
«Die letzten 2,5 Millionen Jahre Wirtschaftsgeschichte lassen sich in Kürze so zusammenfassen», schreibt Eric D. Beinhocker vom Institute for New Economic Thinking in Oxford. «Sehr, sehr, sehr lange Zeit passierte kaum etwas – und dann brach auf einen Schlag die Hölle los.»
Noch im Jahr 1800 hatten zwar einzelne Länder wie Grossbritannien und ein Teil Kontinentaleuropas die Industrialisierung bereits begonnen – der überwiegende Teil der Erde aber war weiterhin arm. Der Welthandel hielt sich in Grenzen: Exportierte und importierte Güter machten zusammen weniger als 10 Prozent der Wirtschaftsleistung aus.
Dann begannen erst die reichen Länder Europas und die USA untereinander zu handeln – doch selbst 1970 kamen Handelswaren nur auf ein knappes Viertel des BIP. Erst in den vergangenen zwei Generationen, und besonders nach dem Fall der Berliner Mauer und der Öffnung Chinas, explodierte der Welthandel. Heute übersteigt er 50 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung.
Das ist in der Geschichte des Planeten einzigartig. Falls Sie es sich noch besser vorstellen wollen, schauen Sie sich diese Karte mit allen Schiffen an, die an einem Tag im Mai 2012 unterwegs waren (inklusive CO2-Ausstoss).
Diese Entwicklung ist drastisch und hat entsprechend drastische Folgen, meist gleichzeitig schöne wie schwierige.
Unter vielen anderen etwa diese:
Der Wohlstand von Menschen in zuvor sehr armen und sehr reichen Ländern gleicht sich nach der extremen Ungleichheit der Kolonialzeit an.
Asien wird dieses oder nächstes Jahr zur wirtschaftlich mächtigsten Region der Welt.
Mehr Menschen als je zuvor verlassen ihre Heimat auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen.
Es sterben mehr Tierarten aus als je zuvor; mit noch nicht abzusehenden Folgen für das Ökosystem.
Die Auswirkungen des globalisierten Kapitalismus sind so weitreichend und vielschichtig, dass wir erst angefangen haben, sie zu erfassen – und wir werden vieles wohl erst im Rückblick wirklich verstehen. Klar ist: Er hat nicht nur viele Menschen reicher gemacht (nicht alle im gleichen Mass). Sondern auch die Welt nervöser, fragiler und krisenanfälliger als je zuvor.
Das hat mit einer schlichten Tatsache zu tun, auf die etwa Physikerinnen und Risikoexperten seit langem hinweisen: Die Weltwirtschaft ist ein sogenannt komplexes System. Um den Planeten zieht sich ein Netzwerk aus Milliarden von Menschen, Beziehungen, Erwartungen, Entscheiden und Abhängigkeiten. Dieses System ist das, was die heutige globalisierte Wirtschaft so faszinierend macht. Doch es ist gleichzeitig ihre Achillesferse: Ein komplexes System ist wegen seiner vielen Wechselwirkungen komplett unberechenbar. Es entwickelt eine Art Eigenleben.
Das bedeutet: Die Wahrscheinlichkeit einer unvorhergesehenen Katastrophe ist gross. Und sie wird in immer höherem Tempo grösser – mit jeder neuen Vernetzung, jeder Handelsbeziehung, jeder zusätzlichen Milliarde an Geldern, die im weltweiten Finanzsystem zirkuliert.
Krisen sind also keine Ausnahmeerscheinung. Sie sind zu erwarten.
Diese Erkenntnis wurde in den Wirtschaftswissenschaften lange ignoriert.
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(01.04.2020)