Warum Sie mit Arbeit niemals reich werden

Es liegt nicht an Ihnen: Die nüchternen Gründe.

Es gibt in der protestantisch und bäuerlich geprägten Schweiz kaum einen heiligeren Glauben als den an die Meritokratie: die Herrschaft derjenigen, die es verdienen. Oder etwas direkter: Fleiss zahlt sich aus. Leistung wird sich lohnen. Wer hart arbeitet, wird reich.

Der folgende Satz grenzt in diesem Land an Blasphemie, und genau darum muss er ausgesprochen werden: Nein, Lohnarbeit wird Sie nicht reich machen. Egal, wie viel, wie hart, wie clever Sie arbeiten. Und auch nicht, wenn Sie sehr gut verdienen.

Sie sind leider nicht gemeint, wenn «Eat the Rich» an einer Mauer prangt oder wenn Politikerinnen versprechen, Superreiche oder Grossvermögen stärker zu besteuern.

Und hier folgt, warum.

1. Womit Ihr Lohn vor allem zu tun hat
Lohnarbeit bedeutet, dass Sie Ihre Arbeitskraft an jemanden verkaufen, der Sie dafür bezahlt. Sie geben Ihre Zeit, und dafür bekommen Sie Geld. Wir alle glauben gerne, die Höhe dieses Lohns habe mit unserer Leistung zu tun, vor allem, wenn wir ordentlich verdienen. Das stimmt manchmal, und die meisten Menschen geben sich sicher die meiste Zeit ziemlich Mühe. Nur: Noch viel mehr hat Ihr Lohn damit zu tun, in welcher Branche und für welche Firma Sie arbeiten.

Anders gesagt: Es kommt nicht so sehr darauf an, wie gut Sie schwimmen – es kommt vor allem darauf an, in welchen Fluss Sie steigen.

Ein 45-jähriger Bäcker in der Nordwestschweiz verdient laut der im ganzen Land regelmässig erhobenen Lohnstatistik ungefähr 6500 Franken im Monat. Der Ingenieur mit Fachhochschul­abschluss, der die Maschinen für den Bäcker herstellt, ungefähr 9800 Franken. Dieser Unterschied hat mit sehr vielem zu tun: mit der allgemeinen Arbeits­markt­lage, mit Gewohnheit, Ausbildungs­unterschieden und Diskriminierungen (Frauen und Nichtschweizer verdienen oft weniger), vor allem auch mit Macht­verhältnissen und Arbeitskampf. Noch entscheidender aber ist dies: Niemand kann und wird Ihnen für eine Stunde Ihrer Arbeit mehr bezahlen, als er selbst in dieser Stunde einnimmt. Das wäre eine fast schon naturgesetzliche Unmöglichkeit; Ihr Arbeitgeber wäre innert kürzester Zeit bankrott. Das bedeutet: Wie viel Geld Sie bekommen, hängt vor allem davon ab, wie viel Geld Ihr Arbeitgeber mit seinem Business verdienen kann.

Nehmen wir an, Ihre Firma nimmt im Monat von all ihren Kundinnen 200’000 Franken ein. Nachdem Miete und Strom, alle Rohmaterialien, Versicherungen, Steuern und so weiter bezahlt sind, bleiben noch 100’000 Franken Gewinn in der Kasse. Dann wird Ihre Firma, wenn die Eigentümer aussergewöhnlich bescheiden sind und keinen Rappen für sich behalten, all ihren Mitarbeiterinnen zusammen monatlich maximal 100’000 Franken an Lohn ausbezahlen können – mehr ist schlicht nicht da.

Tatsächlich sind es üblicherweise eher 70’000 Franken, die sie im genannten Beispiel ausbezahlt: In Schweizer Unternehmen fliessen durchschnittlich jeweils etwa 70 Prozent des Gewinns über die Löhne an die Mitarbeiter. (So viel beträgt in der Schweiz die sogenannte Lohnquote, ein im internationalen Vergleich hoher Wert.) Die übrigen 30 Prozent des Gewinns gehen an die Eigentümer. Dafür, dass sie ihr Kapital dieser Firma zur Verfügung stellen, es also nicht anderswo investieren oder verprassen. Das dürfen Sie je nach politischer oder persönlicher Haltung skandalös, einigermassen angemessen oder zumindest unvermeidlich finden. Eine Tatsache bleibt davon unberührt: Über Ihrem Monatslohn hängt immer ein Deckel, ganz egal, wie hart Sie schuften. Das, was Ihre Firma in demselben Monat verdient.

Das kann mehr oder weniger sein – mehr dazu gleich –, aber es ist immer begrenzt. Sie können in der Schweiz mit Lohnarbeit durchaus materiell gut leben, Sie können ohne Zweifel ein zufriedener Mensch sein und ein gelungenes Leben führen. Nur: Wirklich reich werden Sie damit nicht.

Das liegt daran, dass Sie als Lohnarbeiterin ein Mensch sind. Und dass Sie darum immer nur an einem Ort zu einer Zeit wirken können.

Ganz im Gegensatz zum Kapital.

2. Sie haben keinen Hebel
Weil die Schweiz ein Land mit einer mächtigen meritokratischen Erzählung ist, ein Land auch, in dem Arbeit und Bescheidenheit hochgeschätzt sind, messen viele Menschen Einkommens­unterschieden eine hohe Bedeutung zu. Sie stellen «Niedrig­verdiener» den «Gut­verdienerinnen» gegenüber. Manche sehen dann die Differenz als Belohnung für gute Taten, andere empfinden sie als Ungerechtigkeit. Und viele fänden es richtig, wenn alle mit viel Lohn vergleichsweise mehr als heute zum gemeinsamen Staat beitragen.

So etwa schlägt die 99-Prozent-Initiative auf ihrer Website an prominenter Stelle vor, mit den erwarteten Mehreinnahmen aus den Kapitalsteuern nicht alle Arbeits­einkommen zu entlasten, sondern lediglich «tiefe und mittlere».

Dieser Blick ist durchaus folgerichtig in einem Land, das seinen Staat viel stärker mit Steuern auf Einkommen als mit Steuern auf Vermögen finanziert. (Im Kanton Bern beispielsweise zu 67 Prozent.) Er zielt aber bei aller guten Absicht am tatsächlichen Spektakel vorbei: Der wirklich grosse Unterschied besteht nicht zwischen denen, die mit ihrem Job etwas mehr, und denen, die damit etwas weniger verdienen. Sondern zwischen denen, die nur von ihrer Erwerbsarbeit leben, und denen, die das nicht oder nur teilweise müssen. Oder, in den Worten der Berner Patrizierin Elisabeth de Meuron: «Syt dihr öpper oder nämet dihr Lohn?»

Natürlich, es gibt beachtliche Lohn­unterschiede. Mit dem Verkauf hochkomplexer Maschinen lässt sich tendenziell mehr Geld verdienen als mit dem Verkauf von Brot. Wer die heiklen finanziellen Geheimnisse seiner Kundinnen hütet, wird dafür in der Regel mehr verlangen können als ein Coiffeur fürs Haare­schneiden. Wer wohlhabenden Kunden Versicherungen verkauft, kann dafür im Allgemeinen mehr verbuchen als eine Firma, die Hemden reinigt. Darum – und wegen der einen oder anderen Verzerrung und Ungerechtigkeit – verdienen Maschinenbau­ingenieurinnen üblicherweise mehr als Bäcker, Banker mehr als Coiffeusen und Versicherungs­mathematikerinnen mehr als Reinigungs­angestellte. (Und überall, wo etwas halb oder ganz illegal ist, haut es die Margen richtig hoch: Schweigen kostet.)

Das am wenigsten verdienende Zehntel der Vollzeit-Arbeitnehmer in der Schweiz bekommt im Schnitt monatlich weniger als 4100 Franken netto. Das einkommens­stärkste Zehntel mehr als 10’700 Franken. Das sind grosse Unter­schiede. Doch wirklich dramatisch werden sie erst, wenn Sie das Spielfeld wechseln: von der Erwerbsarbeit zum Kapital.

In dem Moment also, wo Sie nicht mehr einfach angestellte Bäckerin sind. Und auch nicht Eigentümerin einer Bäckerei. Sondern dann, wenn Sie eine ganze Reihe von Bäckereien hochziehen – eine Kette von Filialen, von denen jede den Restgewinn nach Abzug der Löhne an Sie abliefert. So, als würden Sie überall eine dünne Schicht Rahm abschöpfen. So, als hätten Sie sich durch einen gespenstischen Zauber vervielfacht und würden an Dutzenden, Hunderten Orten gleichzeitig wirken. Sie haben sozusagen nicht mehr nur ein Leben, sondern Tausende gleichzeitig: Das ist die Magie des Kapitals.

Ein Unternehmen zu gründen, es allenfalls gar an die Börse zu bringen oder zu verkaufen, ist Ihre einzige Chance auf Reichtum, falls es für Sie auf dem üblichen Weg – erben oder gut heiraten – nicht geklappt hat. Sie finden diese Aussage blasphemisch? Die Welt von Jane Austen und Gustave Flaubert ist nicht ganz so weit entfernt, wie die meritokratische Mittelschicht oft glaubt: Jeder zweite Vermögens­franken in der Schweiz ist heute vererbtes Geld. Und die Lage spitzt sich zu. 1996 gaben Bürgerinnen noch insgesamt 36 Milliarden Franken an ihre Erbinnen weiter; 2020 waren es geschätzte 95 Milliarden Franken. (Das ganze Ausmass und die Details der Erberei hat Kollege Elia Blülle hier sehr schön analysiert.)

Falls Sie weder geerbt, gut geheiratet noch ein erfolgreiches Unternehmen gegründet haben, können Sie kaum mehr reich werden. Immerhin aber zumindest etwas wohlhabend – indem Sie versuchen, klug zu investieren. Beispielsweise in Wohneigentum. Wenn Sie das richtig und vorsichtig und an guter Lage tun und stetig etwas Hypothekar­schulden abzahlen, werden die allgemeine Stabilität der Schweiz und die Zeit für Sie arbeiten. Auch hier schuften Sie also nicht alleine, sondern Sie haben einen kleinen Hebeleffekt: einerseits durch das Geld, das Ihre Bank zuschiesst. Andererseits durch den stetigen Einsatz aller Bürgerinnen, der die Schweiz zu einem sicheren und wohlhabenden Ort macht – und Ihre Immobilie zu einer soliden Anlage.

Der Haken ist nur: Auch dafür brauchen Sie ein wenig Kapital, also Erspartes. Wenn Sie tatsächlich nur von Ihrer Lohnarbeit leben, ist das sehr schwierig aufzutreiben: weil sehr viele Menschen Ende des Monats kaum mehr etwas auf dem Konto haben.

Und zwar zu Ihrer eigenen Überraschung auch dann nicht, wenn Sie eigentlich ganz gut verdienen. Aber auch das ist nicht wirklich Ihr Fehler. Es liegt nicht – oder zumindest nicht nur – an Ihnen.

(...)

(15.09.2021)

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