Wie viel wir arbeiten

Das Stundenpensum der Menschen hat über die Jahrzehnte deutlich abgenommen. Doch ein zweiter Blick – gerade auf die Situation der Frauen – zeigt ein differenzierteres Bild.

Neun Stunden in Büro, Spital oder Schule statt zwölf in der Fabrik: Die arbeitenden Menschen in der Schweiz sind heute durchschnittlich deutlich weniger im Einsatz als zur Zeit unserer Urgrosseltern. Damit hat dieses Land eine ähnliche Entwicklung mitgemacht wie viele europäische Nachbarstaaten. Woran könnte das liegen? Weshalb sieht die Lage in den USA anders aus? Und wo müssen wir vielleicht noch etwas genauer hinschauen? Dazu gleich. Zunächst zu den Daten.

1870 waren Arbeiter in der Schweiz durchschnittlich 3195 Stunden im Jahr im Einsatz. Rund fünf Generationen später, im Jahr 2000, waren es noch 1597 Stunden – fast genau halb so viele. In Jahresarbeitsstunden zu rechnen, hat den Vorteil, dass auf diese Weise Teilzeitarbeit oder unregelmässige Arbeit miteinbezogen werden kann – viele Statistiken in Wochenarbeitsstunden schauen sich jeweils nur die Entwicklung bei Vollzeitstellen an. Das sorgt natürlich für eine bessere Vergleichbarkeit im Laufe der Zeit, schliesst aber einiges an Realität aus. (Auch dazu später.)

Die Entwicklung in elf westeuropäischen Ländern* insgesamt, hier zusammengefasst unter «Europa», sieht sehr ähnlich aus wie in der Schweiz. Überall haben die Arbeitsstunden ab etwa 1910 stark, während und kurz nach dem Zweiten Weltkrieg kaum und ab 1950 wieder stärker abgenommen.

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Die Frauen stocken auf
Nun aber noch zu einem grossen, leuchtenden «Vorsicht!», mit dem die Langzeitstudien zu Arbeitsstunden versehen werden müssen. Wenn es um das Thema Arbeit geht, vergass die Ökonomie lange Zeit den unsichtbaren, unquantifizierten Zwilling von Fliessbandarbeit oder Bürojob: die unbezahlte Haushaltsarbeit. Man könnte auch sagen: Sie übersah die Realität vieler Frauen.

Das hat auch in diesem Fall Folgen. Viele Langzeitstudien zu den geleisteten Arbeitsstunden zählen diese Stunden nicht pro Kopf in der Bevölkerung, sondern pro Arbeiter, bei Rechnungen zu Wochenstunden oft gar pro Vollzeitarbeiter. Das schafft eine gute Vergleichbarkeit: Man kann mit dieser Methode etwas aussagen darüber, wie sich die durchschnittliche Belastung von aktiven Arbeiterinnen, quasi die Arbeitsverhältnisse, über die Jahre entwickelt hat. Daraus lässt sich durchaus auch eine Ahnung gewinnen, wie sich die Arbeitslast der ganzen Gesellschaft verändert. Allerdings nur dann verlässlich, wenn sich nicht an der Erwerbsbeteiligung fundamental etwas geändert hat. Mit anderen Worten: Arbeitet der durchschnittliche Arbeiter neu sechs statt zwölf Stunden, hat sich die generelle Arbeitszeit in seiner Gesellschaft nur dann halbiert, wenn nicht jemand anders dafür die sechs Stunden zusätzlich übernommen hat.

Bei genauer Betrachtung können reduzierte Arbeitsstunden etwas anderes bedeuten als generell weniger Arbeit: nämlich gleich viel Arbeit wie zuvor, einfach auf mehr Schultern verteilt. Was vielleicht auch eine erfreuliche Erkenntnis ist – nur eben eine andere.

Tatsächlich ist genau das zum Teil geschehen. Den beiden Ökonomen Valerie A. Ramey und Neville Francis fiel der blinde Fleck vieler Studien auf, und sie machten sich 2009 daran, die geleisteten Arbeitsstunden in den USA statt pro Arbeiter pro Person im erwerbsfähigen Alter umzurechnen, zusätzlich noch analysiert nach Geschlecht und verschiedenen Altersgruppen. Sie kamen zu folgenden Erkenntnissen:

Die geleisteten (bezahlten) Arbeitsstunden pro Kopf in der Bevölkerung haben seit 1900 tatsächlich abgenommen. Die durchschnittliche Belastung der Bürgerinnen und Bürger ist insgesamt also wirklich kleiner geworden, wenn auch deutlich weniger, als man es angesichts der üblichen Stundenrechnungen vermuten könnte.

Die Abnahme gilt ausserdem nicht für jede Bevölkerungsgruppe. Junge Menschen bis zur Volljährigkeit arbeiten durchschnittlich weniger als vor hundert Jahren (wegen der Schule), Menschen ab 65 Jahren arbeiten ebenfalls weniger sowie Männer in sämtlichen Altersgruppen. Frauen ab 18 Jahren hingegen arbeiten durchschnittlich mehr, ab 25 Jahren sogar deutlich mehr Wochenstunden als noch um 1900.

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(26. 02. 2018)

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