Unter Vampiren

Was mich eine Begegnung mit der Performance-Künstlerin Marina Abramović lehrte.

Meine Reise endet damit, dass Marina Abramović mich anschaut mit ihren gelbgrünen Löwinnenaugen, darin die ganze Welt, und ich mich schäme. Ich schäme mich auf dem Weg zum Bus, in der Sommerhitze von Basel, ich schäme mich beim Warten auf dem Bahnhof und im Zug.

Dann endlich, zu Hause, verstehe ich und zucke mit den Schultern.

Ich habe nur wenige Heldinnen in meinem Leben; Marina Abramović gehört dazu. Sie rührt mich, weil ich in ihrem Werk das Dilemma vieler Frauen, vor allem schöner Frauen, erkenne: Ich werde geliebt, ich habe Macht – wenn ich mich zur perfekten Projektionsfläche mache. Wenn ich mich nach meinen Bedingungen missbrauchen lasse. Wenn ich die Kontrolle habe über die Gewalt, die mir angetan wird. Ich bestimme, wann die Gewalt beginnt und wann sie aufhört, und ich bestimme auch, dass sie mich nicht berührt.

Es ist die Urform weiblicher Macht in patriarchalen Gesellschaften, und selbstverständlich ist sie supersexy. Und tief verletzend. Es braucht einen stählernen Willen, sie zu überleben, wie ihn Abramović wahrscheinlich hat, vielleicht auch Lady Gaga, die bei ihr das Durchhalten körperlicher Strapazen trainierte, einsam in der Natur, hungrig. Wahrscheinlich auch Madonna.

Immer wieder hat Abramović über die Einsamkeit gesprochen, die ihr Weg mit sich bringt. Hierzulande zuletzt in einem Interview mit der «SonntagsZeitung»: «Man erhält diese unglaubliche Liebe eines grossen, anonymen Publikums, aber diese Anerkennung isoliert dich, sie erschafft ein Idol, das die Leute lieben. Aber man will als menschliches Wesen geliebt werden. Das ist etwas anderes.»

Es ist ein interessantes Interview. Aber eines, das den üblichen Verlauf nimmt: Der Journalist fragt, Abramović entblättert sich, sofort, bereitwillig. Sie performt. Sie flirtet. Die Rollen stehen fest. So, wie sie auch bei meiner Begegnung mit ihr feststehen, unvermeidlich, unwiderruflich. Und genau das ist der Grund für meine Scham.

Die Höllenmaschine, die sie antreibt
Abramović kam nach Riehen bei Basel, um ein Buch vorzustellen, das sie gemeinsam mit der Zürcher Psychoanalytikerin Jeannette Fischer geschrieben hat. Ich halte es für das mutigste, das sie bislang veröffentlicht hat. Vier Tage lang haben die beiden Frauen die Tiefen Marina Abramovićs erkundet, und das Transkript zeigt tatsächlich den Menschen hinter der Projektionsfläche. Verwundert über sich selbst, nachdenklich darüber, warum sie sich die körperlichen und seelischen Qualen ihrer Arbeit antut, erschöpft.

Künstler, wie übrigens aussergewöhnliche Unternehmerinnen auch, scheuen sich üblicherweise, die Höllenmaschine genau anzuschauen, die sie antreibt – geschweige denn, darüber zu sprechen. Darum ist dieses Buch so mutig. Weil es den hochsensiblen Motor offenlegt. Und auch, weil es die Botschaft enthält, dass es vielleicht langsam reicht.

«Ich bin so müde von all dem», sagt Abramović in dem Buch. «Ich will einfach nur Ich sein, das wahre Ich, nicht diejenige, die die anderen wollen.» Und: «Ich habe genug.»

Das wäre der wirkliche Sieg. Die Macht genutzt zu haben, um zur Freiheit zu kommen. Davonzugehen. Den Kampf zu lassen, gerade den Kampf, den man beherrscht. Und sich in eine Wiese zu legen.

Was für ein Schritt. Ich will, gerade darum, unbedingt zu dieser Vernissage, schaffe es auch trotz ausverkauften Plätzen, setze mich leise seitlich in die vorderste Reihe und warte.

(...)

(16.07.2018)

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